Start einer Blog-Diskussion mit der Schweizer Autorin Rita Messmer
Rita Messmer, Buchautorin und Therapeutin in der Schweiz, hat mir folgende kleine Geschichte geschickt. Eine Mutter, die sie berät, hat ihr diese Begebenheit erzählt. Ich möchte an dem Beispiel Verhaltens-Variationen aufzeigen und sie mit Rita hier auf dem Blog diskutieren.
„Sonja, selber Mutter eines 14 Monate alten Kleinkindes, will ihrem dreijährigen Patenkind Lea eine spezielle Freude machen und kauft ihm ein kleines Stil-Eis. Sonja packt es aus und hält es der Kleinen hin. Lea schaut, schüttelt den Kopf – sie sieht im Schokoladenüberzug einen Riss. Lea erklärt, sie wolle dieses Eis nicht, sie wolle eines ohne Riss. Die Patin schaut das Kind kurz an, legt die Verpackung hin und das Eis darauf und erklärt: „Es gibt kein anderes Eis, wenn du willst, kannst du das hier essen.“ Sie dreht sich um und entfernt sich. Das Kind fängt an mordio zu schreien, so dass der Vater aufmerksam wird. Er bittet seine Schwester (die Patin seiner Tochter), Lea doch ein zweites Eis zu kaufen. Die Schwester erklärt, dass sie das bestimmt nicht mache. Die Kleine schreit so heftig, bis sie sich fast erbricht. Jetzt geht der Vater und kauft ihr ein zweites Eis.“
Zunächst schreibe ich mal, was mir dazu einfällt, und welche Fragen ich an Rita dazu habe. Im nächsten Blog-Beitrag wird dann Rita auf meine Fragen antworten und ihren Ansatz erläutern.
Heute also zunächst meine Gedanken:
- Früher (oder bei manchen Eltern auch heute noch) wäre die Dreijährige ausgeschimpft worden. Sie solle dankbar sein, dass sie überhaupt ein Eis bekäme. Und was ihr einfiele zu meckern, nur weil der Schokoladenüberzug einen Riss habe. Sie solle mal an die Kinder in Afrika denken, die überhaupt nichts zu essen hätten. Und sie mache so ein Theater wegen einer kleinen Bruchstelle. Das nächste Mal bekäme Lea überhaupt kein Eis, weil es ja niemanden zuzumuten sei, dass sie sich so anstelle.
- Erlebt habe ich auch schon, dass sich die Erwachsenen über das „kleine Mimöschen“ lustig machen, spaßeshalber so tun, als würden sie das Eis essen und das Kind ginge leer aus und sich richtig amüsieren, wenn das Kind dann völlig ausrastet.
Variante 1 und 2 finde ich respektlos.
Aber auch ich würde dem Mädchen kein neues Eis kaufen. Es hinzulegen und dem Kind Zeit zu geben, sich zu entscheiden, halte ich für eine gute Idee.
„Sie dreht sich um und entfernt sich“ – das Verhalten von Sonja aus dem Beispiel lässt einigen Interpretationsspielraum. Wie weit entfernt sie sich? Und mit welcher Haltung? Zeigt sie dem Kind die kalte Schulter?
Das kann schnell etwas haben von „Strafen durch Missachtung“. Gut fände ich, das Eis auf das Papier zu legen und sich ein wenig wegzudrehen, damit Lea ganz zu sich selbst kommen und merken kann: „Ich habe die Wahl: gar kein Eis oder ein Eis mit Sprung in der Schokolade. Und wenn Sonja so gelassen reagiert, ist das vielleicht nicht so ein Drama, wie es sich im ersten Moment für mich angefühlt hat.“
Wichtig ist folgende innere Haltung des Erwachsenen: „Ja, deine Enttäuschung darf sein. Du hattest dich auf ein Eis gefreut und jetzt wirkt es auf dich, als wäre es kaputt. Dass du einen Moment traurig darüber bist, ist in Ordnung. Solche Gefühle gehören zum Leben dazu. Ich werde dich dafür nicht entwerten. Ich bleibe in deiner Nähe und halte das mit dir aus.“ Wohlgemerkt – das ist ein innerer Monolog, um die eigene Haltung abzusichern. Bitte dem Kind nicht einen solchen Vortrag halten!
Allerdings könnte man darüber hinaus die Gefühle des Kindes spiegeln und ihm etwas sagen wie: „Du bist enttäuscht, weil da ein Riss ist. Das kann ich verstehen. Und ich möchte kein Geld für ein neues Eis ausgeben. Ich lege dir dein Eis hier hin, dann kannst du überlegen, ob du es essen möchtest oder nicht.“
Das Verhalten von Lea, wie es oben in der Geschichte beschrieben ist, zeigt, dass sie in ihren ersten drei Lebensjahren gelernt hat, durch Weinen und Schreien Ziele zu erreichen. Wenn ein Kind im ersten Moment enttäuscht, traurig oder wütend über den Riss ist, ist das normal. Denn mit drei Jahren wird es noch von Gefühlen geflutet und kann sie noch nicht steuern wie ein älteres Kind oder ein Erwachsener. Aber dann anhaltend zu schreien, zu toben und sogar zu würgen, ist erlernt.
Das Kind hat durch Erfahrung abgespeichert, dass es seine Eltern mit seinen Gefühlen steuern kann oder sogar muss, weil von ihnen keine Führung kommt. So entbehrt es die beruhigende Sicherheit von Erwachsenen, die angemessen auf seine Gefühle eingehen und ihm gleichzeitig helfen, aus dem Drama auszusteigen und Gefühlsmanagement zu trainieren.
Im Verhalten des Vaters liegt wenig Zutrauen in sein Kind, mit normalen Alltagsirritationen zurecht zu kommen … oder schlicht Bequemlichkeit („Dann kauf ihr halt ein neues Eis, damit Ruhe ist!“). Allerdings wird es ihm nur kurzfristig Ruhe bescheren. Eine solche Reaktion beschwört gleich das nächste Drama herauf (Stein im Schuh, Socke, die kratzt, Rutsche, die nass ist ….) .
Das Verhalten der Tante (vorausgesetzt, dass kein Strafen durch Missachtung stattfindet) kann sehr wertvoll für Lea sein. Sie erfährt: Meine Gefühle dürfen sein, Sonja bleibt gelassen bei mir, sie gibt mir Raum, eine eigene Wahl zu treffen, sie traut mir zu, das Problem selbst zu lösen, sie gibt mir Sicherheit, weil sie sich selbst nicht aus dem Konzept (ich kaufe ein Eis und nicht das ganze Sortiment) bringen lässt.
Kurz und knackig würde ich mich als Tante am liebsten so verhalten:
- Verständnis für spontanes Gefühl des Kindes zeigen
- kein neues Eis kaufen
- Eis auf Papier legen und dem Kind die Wahl lassen, was es damit macht
- neutral bleiben, sich leicht abwenden, um Kind Entscheidungsspielraum zu geben
- aber so nah bleiben, dass das Kind zu mir kommen kann
Da ich Ritas Bücher gelesen habe, nehme ich an, dass sie ein Abwenden vom Kind in der Situation mit dem Eis für ein wichtiges biologisches Signal für den kleinen Homo Sapiens hält. Nicht Schimpfen, nicht strafen, aber sich entfernen.
Liebe Rita, habe ich Recht mit meiner Annahme?
Wenn ja, wäre das nicht ein Strafen durch Missachtung?
Und ist das nicht sogar die schlimmste Form von Strafe?
Dass kein neues Eis gekauft wird, darin sind wir uns beide einig.
Und sicher auch darin, nicht eine halbe Stunde darauf einzusteigen, dass dieses blöde Eis einen Sprung in der Kuvertüre hat.
Aber was hältst du von „Verständnis zeigen für die erste Enttäuschung“, „Gefühle des Kindes in Worte fassen (spiegeln)“ und „verfügbar sein, wenn das Kind in dieser Situation Nähe braucht“?
Ich bin gespannt auf deine Antwort!
Im nächsten Blog-Post könnt ihr lesen, wie Rita Messmer zu dieser Situation steht.
Immer fröhlich kuvertüre-freies Eis kaufen ;-)))
eure Uta