Gastbeitrag von Rita Messmer über ihren Ansatz: Biologie statt Psychologie
Im vorherigen Beitrag ging es um ein kleines Mädchen (3), das ein Eis nicht essen wollte, weil der Schokoladen-Überzug einen Sprung hatte. Seine Patentante sagte ihm, sie werde kein neues Eis kaufen. Sie legte das Eis auf das Papier und überließ dem Kind die Wahl, es zu essen oder nicht. Die Kleine rastete aus. Und schließlich kaufte der Vater ihr ein neues Eis.
Mit Rita Messmer, der Schweizer Therapeutin und Buch-Autorin, die mir diese Geschichte geschickt hatte, stimmte ich darin überein, dass auch ich dem Kind kein neues Eis gekauft hätte. Bei mir entstand nur die Frage, ob man nicht trotzdem tröstend beim Kind bleiben sollte. Bedeutet das Sich-Abwenden nicht Missachtung und Strafe? In meinen Augen: „Ja“!
Nun hat Rita auf meinen Beitrag geantwortet. Und es wird deutlich, dass sie einen komplett anderen Ansatz hat. Einen biologischen, keinen psychologischen. Aber lest selbst:
Gastbeitrag von Rita Messmer:
„Liebe Uta,
es hat jetzt ein bisschen gedauert, aber weil ich sehe, welche Gedankengänge und Überlegungen zu diesem – in meinen Augen recht simplen – Beispiel gemacht werden, will ich auch ausführlich antworten. Das Beispiel ist aber doch symptomatisch für das Verhalten vieler heutiger Kleinkinder, und das hat einen Grund: die Eltern! Und da möchte ich ansetzen, um grundsätzlich das Verhalten unserer Gesellschaft gegenüber Kindern zu hinterfragen. Heute Morgen gerade sagte mir eine Kita-Leiterin: Es ist zum Verzweifeln, was wir die Woche über mit den Kleinen aufbauen, zerstören die Eltern am Wochenende und am Montag fangen wir wieder bei Null an. Ähnliche Töne hörte ich, als ich kürzlich eine Weiterbildung für Kindergärtnerinnen und Kita-Leiterinnen in Deutschland gab… Für mich sind die Fragen, wie sie gestellt sind, falsch. Zuerst stelle ich hier ein paar Gegenfragen und dabei bitte ich, mal alles Psychologisieren beiseite zu lassen und aus dem Bauch heraus zu antworten:
Wie fühlt sich diese Situation für alle Beteiligten an? Wäre es nicht schöner…?
Da kamen mir die Worte in den Sinn, die mir meine Tochter erzählte, als sie aus Indien heimkam: Irgendwo in einer Stadt hatte sie sich ein Eis gekauft und aß es auf der Straße. Da war dieses kleine, zirka dreijährige Mädchen, das sie mit großen braunen Augen anschaute, wie sie genüsslich ihr Eis aß. Dieser staunende, sehnsüchtige Blick veranlasste meine Tochter, dem kleinen Mädchen das schon halb gegessene Eis zu überlassen. Meine Tochter sagte: „Du hättest sehen sollen, was für ein unglaubliches Glück dieses Kind empfand – es war, als ob ich ihm das Paradies aufmachte… Eine kleine Geste, ein Nichts für mich – und dann dieses Glück, dieses Strahlen in seinem Gesicht. Für mich ein Nichts – noch nicht einmal ein ganzes Eis –, für dieses Kind aber: das Paradies…“ Für mich wäre die Geschichte hier zu Ende – alles gesagt… Warum? Warum verhält sich ein gleichaltriges Kind in einer Gesellschaft so und in einer anderen geradezu entgegengesetzt? Warum schreien unsere Kinder fast bis zum Erbrechen, während anderen das Paradies aufgeht? Das sind die Fragen, die wir uns stellen sollten! Denn diese sind entscheidend, welche Antworten wir erhalten. Wie erhalten wir die Glücksfähigkeit unserer Kinder? Und wie erhalten wir die Freude der Gesellschaft und der Eltern an den Kindern?
Geben uns die Botschaften wie beispielsweise … aus Zeitungsartikeln („In der Schule ist jedes fünfte Kind verhaltensauffällig“), oder das Verhalten vieler Gastwirte, die ab 17.00h keine Kinder mehr ins Restaurant lassen, oder dass ich wöchentlich mindestens eine Mutter bei mir in der Therapie habe, die ihre Kinder am liebsten zurückgeben würde, nicht zu denken? Sollten wir da nicht aufhören zu psychologisieren und uns besser den Ursachen, nämlich der Biologie, zuwenden? Was treibt unsere Kinder dazu, sich so zu verhalten? Welche Informationen bekommt ihr Gehirn, ihr soziales Nervensystem und wie wirkt sich das auf ihr regulatives Nervensystem aus? Denn dieses Verhalten ist epidemisch und nicht mehr nur bei einzelnen Kindern zu beobachten. Überforderte Eltern – eine gelähmte Gesellschaft! Da stimmt doch etwas nicht mehr, wenn Kinder mit aller Achtsamkeit und Zuwendung aufgezogen und umsorgt werden und sich dann ihren Nächsten gegenüber, die für ihr Wohl sorgen, so verhalten? Fühlt sich das richtig an? Ist das im Sinne der Biologie? Macht es dann Sinn, noch achtsamer und noch sorgfältiger zu sein? Das ergibt doch keinen Sinn. Mir ist auch bereits aufgefallen, dass man in unserer Gesellschaft schon fast meint, dass Kinder nun mal einfach so sind – und sich damit abfindet. Wenn ein Kind nicht mehr lacht wie ein Kind – so sagt ein Lied –, dann sind wir jenseits von Eden!
Über Tibet sah ich kürzlich einen Film, da saßen sage und schreibe 200 Kinder in einem einzigen Schulraum, eng zusammengerückt, in jeglichem Alter, und haben aufmerksam einer einzigen Person gelauscht… Aber das ist nicht nur in Tibet so, das gleiche Bild könnte in Afrika, Zentral- und Südamerika, Asien, der Mongolei aufgenommen sein. Wieso verhalten sich Kinder bei uns so extrem anders als anderswo auf der Welt – in einer Kultur, wo es den Kindern noch nie so gut gegangen ist wie heute? Deshalb ist es für mich unglaublich tragisch und äußerst traurig, dass wir es mit unserer Erziehung so weit gebracht haben, dass Kinder so reagieren müssen! Deshalb habe ich mich bemüht, nicht einfach nur deine Frage, liebe Uta, zu beantworten, sondern eine fundierte Auseinandersetzung mit der ganzen Problematik zu geben. Und das geht leider nicht in zwei Worten.
Die Biologie kennt keine Psychologie. Da geht es immer nur um Ursache und Wirkung – und alles steht miteinander in Wechselwirkung. So ermöglicht die Biologie ein Gleichgewicht, das jedem Lebewesen die bestmöglichen Voraussetzungen für sein Dasein schafft. Wenn der Mensch dieses Gleichgewicht stört und die biologischen Abläufe verändert, dann sollten wir mittlerweile gelernt haben, dass das große Auswirkungen im ganzen System verursacht: Ein Grad Klimaerwärmung ist für das Individuum kein Problem, aber für den Planeten Erde bedeutet das ungeahnte Umwälzungen, die wir nicht mehr im Griff haben – gerade weil alles miteinander in Wechselwirkung steht und wir unmöglich alle Faktoren kennen. Dass eine soziale Gemeinschaft funktioniert, dafür sorgt die Biologie und nicht die Psychologie. Und die Biologie ist eben messerscharf und klar. Da gibt es nicht ein bisschen so und ein bisschen so. Alles funktioniert nach ganz klaren Gesetzmäßigkeiten von Ursache und Wirkung. Damit beispielsweise ein Wolfsrudel überlebt, muss jeder seinen Platz kennen, seine Aufgabe übernehmen, sonst steht das Überleben des ganzen Rudels auf dem Spiel – es ist von essentieller Wichtigkeit. Gemeinschaften haben sich in der Biologie gebildet, weil das Individuum einen Vorteil in der Gemeinschaft hat. Nun nimmt sich der Mensch davon nicht aus. Wir sind Teil dieser Biologie, auch wenn wir das zeitweise zu vergessen scheinen. Und deswegen sind Fragen nach Gefühlen und ob das jetzt eine Strafe oder eine Konsequenz bedeutet, unsinnig. Wenn ich ein Messer nicht richtig führe und ich schneide mich, tut es weh. Und das ist absolut richtig! Nicht das Messer ist böse oder schuld und es wird auch nichts daran ändern, wenn ich schreie wie ein Stier. Ich sollte einfach versuchen, das nächste Mal geschickter zu sein… Nun kommt ein wichtiger Begriff ins Spiel: die Homöostase. Mit Homöostase ist die Aufrechterhaltung des so genannten inneren Milieus des Körpers mit Hilfe von regulativen Systemen gemeint. Diese Systeme regeln beispielsweise den Kreislauf, die Körpertemperatur, den pH-Wert, den Wasser- und Elektrolyten- oder den Hormonhaushalt. Der Begriff wird sowohl in der Medizin als auch in der Psychologie benutzt. Unabgestimmte Systeme haben verunsichernde Auswirkungen auf die Psyche und das Verhalten von Lebewesen. Bei dem permissiven Elternstil ist ein ganz entscheidender Punkt zu beachten: Dadurch dass die Eltern sich so sehr um die Befindlichkeiten des Kindes kümmern, überträgt das Kind seine innere Steuerung nach außen und überlässt sie den Eltern. Dies hat frappante Auswirkungen. Anstatt dass die „hausinterne“ Steuerung (das regulative System) die Aufgabe des Herstellens des Gleichgewichtes (Homöostase) übernimmt, was biologisch richtig wäre, wird das jetzt nach außen verlagert oder übertragen und folglich auf die Eltern projiziert. Die Eltern sind für mein Wohlbefinden verantwortlich. Und das ist in diesem Prozess der entscheidende Punkt. Der Fehler passiert hier. Die Aufgabe der Eltern wäre, die Verantwortung für die Befindlichkeiten des Kindes an es zurückzugeben, also an sein regulatives System. Das heißt, sie müssen es gar nicht zurückgeben, wenn sie es erst gar nicht übernehmen. Das tun sie am besten, indem sie das Ganze einfach übergehen und ignorieren und nicht darauf eingehen, folglich nicht reagieren. Indem sie darauf eingehen, geben sie das Signal: Ich fühle mich dafür verantwortlich – dein Wohlbefinden ist meine Aufgabe. Wenn die Eltern dieses Signal geben, passiert Folgendes: Das Kind reagiert unmittelbar darauf und es will jetzt die äußere Steuerung kontrollieren. Es merkt, diese kennt andere Gesetzmäßigkeiten als die innere. Im Gegensatz zur inneren Steuerung lässt sich die äußere manipulieren, und somit sind wir bei dem Thema Macht angelangt. Denn hat man einmal Kontrolle über etwas gewonnen, will man das nicht wieder verlieren. Manipulation und Kontrolle haben mit Macht zu tun. Das Kind in diesem Alter kennt noch keine Empathie. Es kennt nur die biologischen Gesetzmäßigkeiten, und die setzt es jetzt ein: Jemand, den ich manipulieren und kontrollieren kann, gibt mir nicht den Halt und die Sicherheit, die ich brauche und suche. Es wird zu einem zutiefst verunsicherten und unglücklichen Kind. Und es schreit.
Auf der anderen Seite hat die Evolutionsbiologie den Eltern ein Mittel in die Hand gegeben, um das Kind ohne großen Aufwand und vor allem ohne Druckmittel sich ein- und anpassen zu können – eine soziale Ordnung kennen zu lernen und diese zu befolgen. Die Eltern müssen dazu lediglich das innere Bewertungssystem des Kindes stimulieren. Dazu brauchen sie nur ihr entsprechend richtiges Verhalten einzusetzen. Die Eltern sollten von Anfang an das Kind nicht in den Mittelpunkt setzen. Das Kind läuft mit. Es soll in den Alltag der Eltern integriert werden. Die Eltern geben nur so viel Aufmerksamkeit wie nötig. Dann wirkt Aufmerksamkeit belohnend und lohnend fürs Kind. Es fühlt sich gut an, von den Eltern beachtet zu werden. In dieser Form macht es das Kind glücklich. Wenn wir den ganzen Tag Schokolade essen, schmeckt sie uns da noch? Je sparsamer wir sie essen, desto mehr können wir sie genießen – oder nicht? Wenn wir nun ein bestimmtes Verhalten des Kindes nicht wollen, zeigen wir das an, indem wir uns von ihm abwenden und keinen Blickkontakt herstellen. Das ist das Signal für die Biologie: Dieses Verhalten ist nicht erwünscht. Der Körper des Kindes schüttet die entsprechenden Botenstoffe aus: Es fühlt sich für das Kind schlecht an. Vielleicht fängt es sogar an zu weinen; dann ist das sein regulatives System, das ihm hilft, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Das ist also eine äußerst normale und biologische Reaktion. Es gibt für die Eltern nichts zu tun. Sie müssen auch nicht trösten. Denn es gibt nichts zu trösten, sonst geben sie damit bereits wieder ein falsches Signal. Sie wollen ja, dass der Sprössling den Lernprozess macht und diese Handlung nicht wiederholt.
Es ist folglich völlig falsch, dem Kind die Schuld in die Schuhe schieben zu wollen: Du quengelst, du gehorchst nicht, du bist laut usw. Das Kind trifft in meinen Augen nie Schuld. Das Quengeln, Ungehorsamsein, Lautsein sind oft Tatsachen – Kinder sind häufig so. Das heißt nun aber nicht, dass wir das einfach akzeptieren müssen oder sollen. Wie gesehen liegt es an den Erwachsenen, die richtigen Signale zu geben, um das Kind dahin zu lenken, dass das Leben auch für den Erwachsenen stimmig ist. Das Kind richtet sich immer klar nach den Gesetzen von Ursache und Wirkung. Und diese sind gegeben und unterliegen folglich nicht dem freien Willen, den es für eine Schuld bräuchte. Ich gehe sogar so weit, dass ich sage, alles was ein Baby oder Kleinkind tut, dient immer einem Zweck. Es macht nichts Unnötiges. Es dient seiner Entwicklung. Es dient der Evolution. Deshalb sind alle Babys auf der ganzen Welt gleich, alle machen das Gleiche und folgen dem gleichen Muster. Was uns unterschiedlich werden lässt, ist das Verhalten des Umfeldes oder die Prägung, die das Baby durch seine anders geartete Umwelt erfährt. Das heißt, das Kleinkind reagiert auf unser Verhalten. Es kommt uns aber nur selten in den Sinn, dem Spiegel die Schuld an unserer krummen Nase zu geben. Warum tun wir es dann beim Kind? Es macht uns übellaunig, wir sind frustriert, ärgerlich, wütend, enttäuscht. Oder es gibt Eltern, die dem Kind sagen, dein Verhalten macht mich traurig – was nur Schuldgefühle weckt. Solche Gefühlsäußerungen sind ziemlich unsinnig, wenn wir bedenken, dass das Kind biologisch folgerichtig reagiert. Zudem sind sie eine große Verschwendung von Energie und Ressourcen. Diese kann die Biologie sehr viel sinnvoller einsetzen. Folglich sind Schuldzuweisungen unsinnig – auch die Evolution können wir nicht behaften. Der Einzige, den wir in die Verantwortung nehmen müssen, bin ich selbst.
Der langen Rede kurzer Sinn: Die Tante hat also alles richtig gemacht. Ich selber wäre sogar noch einen Schritt weiter gegangen…ich hätte auf das Reklamieren des Kindes nur folgendes klares Signal gegeben (wohlverstanden ohne Gefühle wie Frustration, Wut, Aggression, sondern völlig gelassen und neutral): „Oh, dann esse ich das Eis.“ Mit diesen Worten hätte ich mich abgedreht und dem regulativen System des Kindes seinen Lauf gelassen, bis dieses seine Arbeit gemacht hätte, und mich erst dann wieder dem Kind zugewandt. Damit wäre aber auch alles gegessen gewesen: Das Eis und alles andere auch. Ihr könnt alle sicher sein, das Kind wird das nächste Mal anders reagieren.“
Soweit Rita Messmers Antwort.
Ganz schön viel Stoff für einen harmlosen Pfingstmorgen.
Einige meiner und sicher auch eurer Überzeugungen bürstet sie mit ihrem biologischen Ansatz gegen den Strich. Wir sind doch nun mal keine Enten oder Gänse, bei deren Küken sich ein schlichtes Nachfolge-Programm abspult, oder?
Aber vielleicht haben wir uns zu sehr von unserer Biologie und von dem, was für den kleinen Menschen artgerecht wäre, entfernt. Vielleicht gehen wir wirklich zu verkopft und psychologisierend an die Sache heran.
Ich merke, dass mich Ritas Ansatz einfach nicht los lässt. Etwas Wertvolles liegt für mich darin, auch wenn mir noch nicht klar ist, wie er sich in jeder einzelnen Situation anwenden lässt und wie er sich dem Groß- und Sich-bewusster-Werden der Kinder anpasst.
Wenn ich das aufgreife, geht es mir in keiner Weise darum, dass Kind im Sinne der Erwachsenen einfach besser funktionieren. Nein!
Mich „kriegt“ Rita mit dem Punkt „glückliches Kind“. Auch ich beobachte das Phänomen, dass Kinder, deren Eltern nicht so um ihre Befindlichkeiten kreisen, sondern es eher „mitlaufen lassen“, einen deutlich glücklicheren Eindruck machen. Und auch bei uns brachte es damals die Wende, als ich die Richtung veränderte: weg von „es geht immer nur um die Kinder“ hin zu „ich kümmere mich mehr um mich und um den Kurs der Familie als Ganzes als um die Befindlichkeiten des Kindes in all seinen Verästelungen“ und „ich kreise nicht um jedes Kind herum und versuche, es glücklich zu machen, sondern gehe beschwingt voran, dann haben wir das Glück viel eher im Schlepptau“.
Wie so ein Richtungswechsel praktisch aussehen kann, habe ich hier schon mal beschrieben.
Ich freue mich, wenn ihr das alles mal auf euch wirken lasst und mir schreibt, ob das Gelesene eine Resonanz in euch findet.
Und dir, Rita, ganz herzlichen Dank, dass du dich gestern hin gesetzt hast, um exklusiv für die Katzenklo-Blog-Leser diesen Gastbeitrag zu schreiben.
Immer fröhlich Pfingsten genießen und jedes Eis, ob mit oder ohne Sprung,
eure Uta